Im März 2022 hätte Andrej Kurkow von Kyjiw nach Sjewjerodonezk in die Oblast Luhansk fahren wollen, um den Filmarbeiten zu seinem Roman Graue Bienen (Diogenes Verlag 2018) beizuwohnen. Der viel beachtete Roman handelt von einem Imker, der sich und seine Bienen aus dem seit 2014 tobenden Krieg zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten heraushalten möchte, ein Unterfangen, das ihm freilich nicht gelingen will. Auch vom gegenwärtigen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine, vom Morden und Zerstören, kann sich der Autor nicht fernhalten, es ist ihm nicht möglich, sich auf die Arbeit am neuen Roman zu konzentrieren, er „kann nur über den Krieg schreiben, darüber, was gerade passiert.“
In Tagebuch einer Invasion hält Kurkow fest, was er erlebt, empfindet und weiß. Wir erfahren, was es bedeutet im Krieg zu leben, mitten in Europa und in einer seit dreißig Jahren nach Freiheit strebenden Gesellschaft eines westlich orientierten souveränen Staates. Was die russische Propaganda der Ukraine anhängen möchte, so Kurkow, etwa dass sie unter einem Naziregime stehe, entspricht nicht der Realität, weder historisch gesehen noch auf die Gegenwart bezogen. Das Unrecht dieses Krieges und das täglich sich zuspitzende Leid der Bevölkerung empört den Schriftsteller, der sich dennoch jeder Aggression enthält. Er schildert vielmehr den Alltag im Ausnahmezustand, berichtet von den Gefahren der Flucht oder vom Terror der Bombardements. Und er weiß, worum es bei all dem geht: „Die Ukraine wird entweder frei, unabhängig und europäisch sein, oder es wird sie überhaupt nicht mehr geben“.
Andrej Kurkow zählt zu den prominentesten Autoren der Ukraine. Er wurde im sowjetischen Leningrad geboren, wuchs in der Ukraine auf und lebte bis vor der russischen Invasion 2022 in Kyjiw. Seine Muttersprache ist Russisch. Während er deklariert, seine fiktionalen Texte weiterhin auf Russisch schreiben zu wollen, weicht er in seinen Essays auf andere Sprachen aus. Erschienen sind bisher Romane, die von skurrilen und schmerzhaften Seiten des Lebens, von Mut und Hoffnung, Gestern und Heute erzählen. Tragikomische Romane wie Picknick auf dem Eis, die skurrile Bilder für postsowjetische Rat- und Hoffnungslosigkeit fanden, machten Andrej Kurkow schon in den 1990er-Jahren weltberühmt. Sein bislang letzter Roman, Samson und Nadjeschda ist erst vor wenigen Wochen in deutscher Übersetzung erschienen.
Kurkow ist Präsident des ukrainischen PEN. In dieser Funktion bezieht er Stellung – im Wissen, dass er sich damit auch angreifbar macht. In einer Zeit, da in der Ukraine nicht zuletzt auch die russische Literatur kritisch gelesen und nicht selten als kriegstreibend bzw. gewalttätig verdammt wird, ist er bemüht, gleichwohl sich klar positionierend, eine differenzierte Haltung einzunehmen.
Tagebuch einer Invasion ist vor kurzem im Haymon Verlag, Innsbruck erschienen und wurde von Rebecca de Wald aus dem Englischen übersetzt.
Das Gespräch mit Andrej Kurkow führt Eva Binder (Institut für Slawistik der Universität Innsbruck)
Moderation: Erika Wimmer Mazohl